Dank: Mein Dank geht an all jene, die mir Feedback zu Amazon Encounter geschickt haben. Eure netten Worte waren wirklich förderlich. Da die Geschichten mit einander verknüpft sind, ist es am besten, wenn sie in der Reihenfolge gelesen werden, in der sie online gestellt werden.
Warnung: Diese Geschichte gehört zu "Alternative Fiction". Bitte lest sie nicht, wenn ihr minderjährig seid oder es an eurem Ende der Welt illegal sein sollte.
Notiz: Die Orte und Geschichten in der Story sind real. Sie sind Bestandteile meiner eigenen Feldforschungen in der Türkei.
Anmerkung von jany_: Da dieser Encounter als Grundlage zum Verständnis der folgenden Encounter dient, habe ich mir erlaubt ihn hier zu posten, obwohl ich Finonomene nicht erreicht habe. Die Übersetzung ist Eigentum von Finonomene und wird wieder offline genommen, falls sie ein Problem damit haben sollte, dass ihre Übersetzung hier gepostet wurde.
Turkish Encounter
By
Anne Azel
a_azel@hotmail.com
Übersetzung von finonomene@planet-interkom.de
Teil 1
Gunnul Dedeman schloss das alte, verwitterte Eisentor der kleinen Kammer auf, in der ihr Grab war. Sie schob sich durch das dichte Gesträuch und stand in der dunklen Höhle.
Hier, nah bei ihr, empfand sie immer Ruhe und Wohlbefinden. Ihre langen, starken Finger strichen über die raue, uralte Oberfläche des Steines. Einst musste es ein wunderschönes Grab gewesen sein. Sogar jetzt noch bedeckten altgriechische Buchstaben den Rand des flachen Reliefs aus längst vergangenen Zeiten. Doch die Namen der hier Begrabenen waren vor dreitausend Jahren in einer Sprache in den Stein geschlagen worden, die heute keiner mehr lesen konnte. Und so konnte auch keiner die Namen aus dieser Zeit mehr entziffern. Es ergab keinen Sinn. Überhaupt keinen Sinn.
Vielleicht sollte sie aufhören, hierher zu kommen. Die Bilder, die sich am Rande ihres Bewußtseins entwickelten, wurden seit Jahren immer stärker. Da gab es die erste Erinnerung aus ihrer Kindheit, wie sie durch die Büsche gekrochen war und plötzlich vor dieser Mauer aus uralten Steinen stand und wusste, sogar mit ihrem kindlichen Verstand, dass sie vor ihrem Grab gestanden hatte und ebenso vor ihrem eigenen. Wusste, als sie darüber geklettert war und die Namen gesehen hatte, die dort eingeschrieben standen, dass etwas nicht stimmte. Etwas war nicht so gelaufen, wie es hätte sein sollen.
Noch einmal streckte Gunnul die Hand aus, wie sie es vor so langer Zeit das erste Mal getan hatte und berührte den Namen von Morgan Andrews. Das ist nicht dein Name, mein Liebling, nicht wahr? Warum kann ich mich nicht erinnern? Dann glitten ihre Finger zu dem zweiten Namen weiter, der ihre eigenen Überreste benannte, wie sie wusste, Kristinia Thanasis. Als sie die Buchstaben berührte, konnte sie ihre Liebe spüren. Tränen traten ihr in die Augen. Liebe war eine Erfahrung, die sie nie gemacht hatte. Allah beschütze eure Seelen bis ich dieses Rätsel gelöst habe, bat sie, dann wandte sie sich um und verschloss ihr ganz eigenes Geheimnis wieder hinter der eisernen Pforte.
*****
Gunnul straffte ihre Schultern und ging durch den wundervollen Garten, der ihr Landhaus umgab. Sie beschäftigte ein Heer von Gärtnern, die dieses Paradies für sie und ihre Chrissy pflegten, doch war es niemandem gestattet, in ihren geheimen Garten einzutreten. Ihr Grab und das ihrer Liebsten blieben gut verborgen hinter der dicht bewachsenen Wand.
Die Diener traten respektvoll zur Seite, als sie vorüber ging, überließen die Kriegerin ihren Gedanken und achteten stets die Privatsphäre dieser mächtigen Frau.
Gunnul lief die Stufen zum Patio hinauf, der sich zum Felsen hin öffnete und den Blick auf das Mittelmeer freigab. Der Ausblick war atemberaubend, wie die See zu Füßen des Taurusberges schäumte. Heute schenkte Gunnul dem keine Beachtung.
Sie durchschritt die offenen Terrassentüren zu ihrem Büro und setzte sich hinter einen riesigen Schreibtisch aus Kirschholz und versank im weichen Leder ihres Bürosessels. Vor ihr auf dem Tisch war ein Bericht über die Erträge auf den Opiumfeldern. Sie schob ihn beiseite und starrte auf den Ordner darunter, der auf ihre Aufmerksamkeit zu lauern schien.
Auf dem Deckel stand 'Jamie Dedeman'. Ärger kroch in Gunnul hoch. Es sollte 'die Hure' darauf stehen, dachte sie grimmig. Sie öffnete den roten Lederordner, in den ihr Privatsekretär alle persönlichen Dinge legte, bevor er ihn auf ihren Schreibtisch packte. Es waren zwei Briefe darin. Der erste war eine Kopie ihres eigenen, den sie an diese Hure geschickt hatte. Er lautete:
Sehr geehrte Ms. Dedeman,
meine Tochter, Christine hat ihr Interesse bekundet, ihre leibliche Mutter kennen zu lernen. Ihr Vater (mein Bruder) Mohammed ist vor zwei Jahren an einer Herzattacke gestorben. Ich halte es für ratsam, ihrem Wunsch zu folgen und ihre Neugier über ihren Hintergrund zu befriedigen, damit sie den Tod ihres Vaters und die Flucht ihrer leiblichen Mutter verarbeiten kann. Aus diesem Grunde habe ich einen Besuch in der Türkei für Sie arrangiert.
Ich wünsche, Sie zuerst zu treffen und kennen zu lernen. Wenn ich glaube, dass ihr Denken und Handeln meine Tochter nicht unnötig verletzen werden, zusätzlich zu ihrem Schmerz, den sie bereits über den Tod ihres Vaters empfindet, dann werde ich einem Treffen zustimmen.
Im Anhang an diesen Brief finden Sie alle Arrangements sowie die Flugtickets für Ihre Reise.
Hochachtungsvoll
Gunnul Dedeman
Gunnul nickte zufrieden und nahm dann angewidert den zweiten Brief in die Hand, der heute eingetroffen war. Sie schlitzte den Umschlag auf und zog die Antwort heraus. Sie las:
Sehr geehrte Gunnul Dedeman,
ich bin nicht nur Chrissys leibliche Mutter, ich bin ihre Mutter! Und Sie sind es nicht! Seit zehn Jahren habe ich versucht, eine Spur von Moe und meiner Tochter zu finden. Sie haben verdammt Recht damit, dass meine Tochter mit mir Kontakt haben muss!
Ich sende Ihnen Ihre Tickets zurück. Ich will Ihr Geld nicht, ich weiß, wie Sie es verdient haben. Ich werde meine Reise selber bezahlen und ich werde den nächsten Flug nach Istanbul nehmen um meine Tochter zurück zu holen!
Hochachtungsvoll
Jamie Miller
Gunnuls Augenbrauen hoben sich konsterniert. In einem hatte ihr Bruder Recht gehabt, diese Frau war gewöhnlich, aber ehrgeizig. Ganz offensichtlich hatte sie vor, sich das Sorgerecht anzueignen, damit sie ihre Hände an Chrissys Erbe legen konnte. Gunnul schnaubte, das würde niemals, niemals passieren. Sie mochte nicht die leibliche Mutter von Chrissy sein, doch sie hatte sie aufgezogen seit sie ein Baby war und Chrissy war weit mehr ihre Tochter, als sie es jemals durch Blut hätte sein können. Sie würde eher diese Frau töten, als zuzulassen, dass diese ihr ihre Tochter fort nahm.
Sie lehnte sich zurück und schloss ihre Augen und spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte. In Gedanken fühlte sie warme Hände, die sich auf ihre Schultern legten. Sie gehörten zu der blonden Frau aus ihren Träumen. Die geheime Geliebte ihrer Fantasie, die immer kam, um sie zu beruhigen. Sie lehnte sich weiter in die Lederlehne zurück und versuchte, einen Hauch des warmen Duftes nach Kräutern zu erhaschen, der ihre imaginäre Freundin stets begleitete. Diese Hure will mir Chrissy wegnehmen, erzählte sie stumm ihrem Tagtraum. Grüne Augen schauten sie voller Mitgefühl an. Keine Sorge, kam die Antwort aus dem tiefen Inneren ihrer Seele. Gunnul seufzte und riss sich selbst aus dieser Welt, von der sie wusste, dass sie nicht das Recht hatte, dort zu sein. Ihre Welt war hier und jetzt und furchtbar und real. Sie zog die Akte über die neuesten Opiumerträge zu sich heran und begann, zu lesen.
*********
Keine Sorge, die Botschaft kam aus dem Innersten ihrer Seele, Jamie seufzte und schaute aus dem Flugzeugfenster auf die Ägäische See unter ihr. Immer da, meine Kriegerin, dachte sie und wandte sich damit an ihre Seelengefährtin, die sie niemals getroffen hatte. Der dunkle Schatten, der immer bei ihr zu sein schien, hüllte sie ein und erleichterte ihren Schmerz. Als sie jünger gewesen war, hatte sie sich beinahe schuldig gefühlt, später war sie besorgt über die stetige Präsenz, die immer mehr zu einem Teil von ihr geworden war. Das war nicht normal und sie hatte schon an eine Therapie gedacht. Irgendwie hatte sie sich jedoch nie dazu aufraffen können. Die Wahrheit war, dass sie ihr geheimes Phantom liebte. Mit ihrem ganzen Herzen und ihrer ganzen Seele liebte. Das war es auch, was sie an Moe so anziehend gefunden hatte. Er sah ihr so ähnlich. Sie hatte sich eingeredet, er sei ihr Seelengefährte. Statt dessen hatte er sich als ihr schlimmster Alptraum erwiesen.
Sie hatte versucht, ihre Ehe zu retten. Hatte versucht ihrem emotional ungefestigten Mann zu helfen, auf eigenen Füßen zu stehen. Aber die einzige Stärke, die Moe zu besitzen schien, war seine Liebe zu Drogen und seine Besessenheit von Gewalt. Nachdem ihre Tochter geboren war und nicht der so sehr erhoffte Sohn, richtete sich seine Gewalttätigkeit immer öfter gegen sie selbst. Und dann war diese fatale Nacht, als er nach Hause gekommen war, wieder betrunken und vollkommen high, sie beinahe zu Tode geprügelt hatte und dann mit ihrem Kind verschwunden war.
Chrissy war damals kaum sechs Monate alt gewesen. Jetzt musste sie fast zehn Jahre alt sein. Würde sie sie erkennen? Sie hatten die gleichen waldgrünen Augen, doch Jamies Haar war rotblond, während Chrissys dunkel war, wie das ihres Vaters. Sie hatte auch seine Statur, hohe Wangenknochen und eine klassische Linie in den Zügen. Ja, sie würde ihre Tochter erkennen. Abgesehen von den blauen Augen, würde sie so aussehen wie die Seelengefährtin ihrer Träume.
Sie sah, wie die blaue See unter ihr in eine braune Landschaft überging. Bald schon würde sie ihrem größten Feind gegenüberstehen, Gunnul Dedeman. Sogar Moe hatte Angst vor ihr gehabt. Er sprach immer mit größter Nervosität von ihren unbarmherzigen Aktionen. Sie war eine Anomalie. Eine Frau, die in einer männlich dominierten Welt akzeptiert war. Wenn man Moe glauben schenkte, so verdiente sie ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf illegaler Drogen und sie war es auch, die Moe verdrängt hatte, um selber die Kontrolle über das Familienimperium zu übernehmen. Er hatte gesagt, dass seine Schwester von außen eine Schönheit sei, doch verdorben bis ins Mark und dass sie Hunderte Menschen auf dem Gewissen hatte. Das war die Person, die ihre Tochter aufzog. Ein kalter, eisiger Klumpen formte sich in ihrer Brust, Keine Angst, Chrissy, deine Mammy wird dich nach Hause holen!
Jamie trat aus der Abfertigung in das Gewühl eines Tollhauses. Türken belagerten den Gepäckterminal und warteten darauf, dass das Flugzeug endlich entladen wurde. Jamie sah sich verwirrt um. Sie konnte ihr Gepäck nicht selbst bewältigen und sie wusste einfach nicht, wo und wie man nach einem Träger fragte. Ihre Hand krampfte sich nervös um den Aluminiumgriff ihrer Krücke, die sie benötigte, um mit ihrem schwer behinderten Bein gehen zu können. Vielleicht sollte sie einen der Passagiere um Hilfe bitten.
"Entschuldigung bitte. Sie sind Jamie Dedeman?" Jamie drehte sich um und sah einen Soldaten, der mit besorgtem Gesichtsausdruck zu ihr nieder blickte. Er trug eine schwarze Uniform mit vielen goldenen Streifen und ein rotes Barett. Der förmliche Auftritt manifestierte sich in einem Maschinengewehr, das lässig über seiner Schulter baumelte.
"Ja. Ja, das bin ich," erwiderte sie nervös.
"Ich bin Ohmir. Ich habe Befehl, Sie zur Residenz von General Dedeman zu bringen. Sie kommen, bitte."
"Warten Sie, mein Gepäck und wer ist General Dedeman?" fragte Jamie und blieb eigensinnig stehen, wo sie war.
Der Soldat sah überrascht aus. "Gunnul Dedeman, der Retter unseres Volkes. Sie hat viele Menschen getötet. Sie ist ein berühmter Krieger und ein Held. Ich zeige es Ihnen. Sie kommen jetzt."
"Was ist mit meinem Gepäck?" fragte Jamie erneut.
"Sie geben mir Gepäckschein. Ich sehe," erklärte der Soldat und streckte seine Hand aus. Jamie seufzte und griff in ihre Tasche nach dem Ticket, auf den ihr Gepäckschein geklebt worden war. Vorsichtig zog sie ihn ab und übergab ihn dem jungen Soldaten. Dann schob sie ihre Tickets wieder in die Tasche zurück. Es waren ein Rückflugticket für sie selbst und eines für Chrissy.
"Sie kommen," sagte der Soldat wieder und ging voran. Jamie folgte ihm, sich mit ihrer Krücke mühevoll den Weg durch die Menge bahnend.
Der Soldat übergab den Schein einem anderen, der bei ihrem Anblick in Habachtstellung gegangen war. In raschem Türkisch gab ihm der Soldat Instruktionen und Jamies Gepäckschein und dann führte Ohmir sie nach draußen zu einer Limousine, die mit Standarten geflaggt war. Er öffnete eine hintere Tür und Jamie glitt auf den Platz, ihre Krücke neben sich. Eine nette Machtdemonstration, Gunnul Dedeman, aber es wird nicht funktionieren, ich werde gegen dich antreten und meine Tochter zurück bekommen.
*********
Gunnul starrte aus dem Hotelfenster auf das geschäftige Treiben Istanbuls zwanzig Stockwerke unter ihr. In ihrer Erinnerung konnte sie noch immer die mokante Stimme ihres Bruders hören: "Du hältst dich für so gut, Gunnul! Die Heldin ihres Volkes! Aber ich habe etwas, was du nie haben wirst, einen Erben, Gunnul. Ich habe den Erben der Dedemans. Und ihre Mutter ist die schlimmste amerikanische Hure, die ich finden konnte. Ich habe sie sogar geheiratet, damit diese Schlampe für immer deine prächtige Familienlinie verunreinigt. Hier ist sie, Gunnul, die Erbin, die du verdienst und die in deine Nachfolge eintreten wird!"
Doch Mohammeds schreckliche Tat hatte seine Schwester nicht verletzen können. Gunnul spürte noch immer den Hauch von Liebe und Beschützerinstinkt, der sie durchfahren hatte, als das kleine Bündel in ihre Hände gelegt worden war. Sie wusste, dieses Kind war ihres und die Probleme mit dem Hintergrund des Mädchens kümmerten sie wenig, sie würde immer für sie da sein und um ihre Tochter kämpfen.
Sie hatte Chrissy rechtmäßig adoptiert. Sie von ihrem Bruder losgekauft, der ein weiteres Vermögen durchbrachte, bis ihn Drogen, Alkohol und sein ausschweifendes Leben schließlich umgebracht hatten. Sie hatte ihre Tochter von ihrem Bruder abgeschirmt so gut das möglich war. Genauso würde sie sie auch vor dieser Schlampe von Mutter beschützen. Chrissy war ein wundervolles, intelligentes und behütetes Kind. Bis auf ihre Augen sah sie aus wie Gunnul. Ihre Augen waren walddunkel, wie die ihrer imaginären Geliebten. Deswegen wusste Gunnul vom ersten Augenblick beim Kontakt mit dem Baby, dass sie zu einer Familie gehörten.
Hinter ihr schaltete sich das Interkom ein, "Gunnul, Ms. Dedeman ist hier." Die Stimme von Teefo, ihrem Sekretär.
"Danke, Teefo. Bitte schick sie herein." Lautete die kühle Antwort. Gunnul wandte sich um, ihr Gesicht zu einer steinernen Maske erstarrt, und wartete. Teefo öffnete die Tür und trat zur Seite. Herein stolperte eine Frau, gekleidet in ein zerknittertes Business- Kostüm von gutem und qualitativ hochwertigem Schnitt. Sie stützte sich schwer auf eine Krücke und schob ein behindertes Bein nach vorne. Als sie aufschaute, blieb Gunnuls Herz stehen, das dort war die Frau, die ihre Träume beherrschte, seit sie denken konnte.
*********
Jamie war müde und fühlte sich von ihrem langen Flug ausgelaugt. Ihr Kopf hämmerte fürchterlich, aber sie riss sich zusammen und folgte dem großen, ernst aussehenden Sekretär in das private Büro von Gunnul Dedeman, bereit, jegliche Herausforderung anzunehmen, um ihre Tochter zurück zu bekommen. Beim Aufblicken stockte ihr der Atem. Die blauen Augen ihres geheimen Beschützers schauten sie direkt an. Die dunkle Gestalt ihrer Träume war plötzlich real. Sie trat zwei wackelige Schritte nach vorn und hörte, wie der Sekretär die Tür hinter ihr schloss, dann drehte sich ihre Welt und Dunkelheit schloss sich über ihr.
Als sie wieder zu sich kam, wusste sie, dass sie war, wohin sie gehörte. Die dunkle Gestalt ihrer Beschützerin hielt sie umarmt und wischte ihr mit einem kühlen Tuch über das Gesicht. Ihr Kopf ruhte unter dem Kinn ihres Phantoms an einer breiten Schulter und ihr Arm war um die Hüfte der Gestalt geschlungen. Ihre Augen schlossen sich flatternd wieder, was immer in der realen Welt auf sie wartete, es konnte ein paar Minuten länger warten, während sie sich an ihrem Traumbild noch eine Weile festhielt, das der Anker ihres Lebens war.
*********
Gunnul sprang vorwärts und zog die kleine Frau in ihre Arme, bevor sie zu Boden fallen konnte. Plötzlich fand sie sich auf einer Sandbank tief im Dschungel, den vertrauten Körper der Geliebten im Arm. Sie schüttelte ihren Kopf, um ihn frei zu bekommen und trug die schlaffe Gestalt hinüber zu einem Sofa. Sie legte sie auf die Polster, ging dann zur Bar und schlug ein paar Eiswürfel in ein Tuch ein. Zurückgekehrt, schlüpfte sie hinter die kleine Person und zog sie an sich, sie spürte mit Freude, wie die Frau den Platz an ihrer Seite einnahm und einen Arm um sie schlang, wie sie es millionenmal in ihren Tagträumen erlebt hatte. Sie hielt die kalte Kompresse an Jamies Stirn und versuchte wenig erfolgreich mit der Tatsache ins Reine zu kommen, dass ihre schlimmste Feindin zugleich die Frau ihrer Träume war.
*********
Die Erkenntnis traf Jamie etwa eine halbe Minute später. Sie lag an Gunnul Dedeman gekuschelt, die Frau, die ihre Tochter gestohlen hatte. Sie setzte sich mit einem Ruck auf und rutschte von der großen, dunklen Frau fort. Entsetzt schaute sie sich nach ihrer Krücke um, damit sie aufstehen konnte.
Gunnul folgte dem verängstigten Blick, der den Raum durchsuchte, bis er endlich auf die Krücke fiel, die auf dem Boden an der Tür lag. Die Türkin stand auf, ging hinüber und hob sie auf und brachte sie dieser wunderschönen blonden Frau, die ihre Todfeindin sein sollte.
Sie hielt sie ihr hin und sagte: "Ich bin Gunnul Dedeman, weil Sie die leibliche Mutter meines Kindes sind, heiße ich Sie willkommen in meinem Land und meinem Haus." Sie drehte sich um, nahm eine Flasche vom Tisch und wandte sich wieder Jamie zu. Auf ihrem Weg kam sie am Schreibtisch vorbei und drückte auf einen Knopf. "Das ist Zitronenöl, es ist Tradition in meinem Land, dass wir einen Gast, der unser Haus aufsucht, damit begrüßen, um ihn von der Reise zu erfrischen. Halten Sie die Hände auf."
Jamie tat wie ihr geheißen, legte die Krücke neben sich ab und hielt ihre Hände auf. Die schöne, dunkelhaarige Frau goss ein wenig der Mischung aus Alkohol, Öl und Zitronen in ihre Handflächen und Jamie rieb sie aneinander und fuhr sich anschließend damit über das Gesicht. Das Zitronenöl fühlte sich kühl und erfrischend an. Ein sanftes Klopfen von der Tür, dann marschierte der Sekretär herein. Er stellte ein großes, silbernes Tablett auf den Kaffeetisch vor dem Sofa ab und verschwand wieder.
Gunnul setzte sich am entferntesten Ende der Couch nieder. "Es gehört auch zu unseren Gepflogenheiten, jeglichen Gästen die Höflichkeit zu erweisen und ihnen türkischen Kaffee und türkisches Gebäck zu reichen." Erklärte die Türkin und bot Jamie von den Süßigkeiten auf dem Tablett an.
Jamie zögerte einen Moment und nahm dann ein Geleestück, das mit Zuckerkristallen überzogen war. Wenn Gunnul sich so viel Mühe gab, dann würde sie das auch können. "Ich danke Ihnen. Ich finde ihre Traditionen sehr angenehm." Sagte sie förmlich und wurde mit einem verwirrten Lächeln der kräftigen Frau bedacht, die von einem kleinen Propangasofen aufschaute, mit dem sie beschäftigt war.
"Es tut mir leid, dass ich zusammengeklappt bin... ich... für gewöhnlich passiert mir das nicht. Sie haben mich überrascht. Sie sehen genauso aus wie Mohammed."
Gunnul rührte den dicken Kaffee um, der in einem langstieligen Gefäß auf dem kleinen Ofen brodelte. Sie fügte der Mischung Zucker hinzu. "Wir waren eineiige Zwillinge," erklärte Gunnul. Sie goss das Getränk in eine sehr kleine Tasse und reichte sie zusammen mit einer Untertasse an Jamie weiter. Dann goss sie sich selber ein und erklärte: "Die Krümel setzen sich am Boden ab. Auf dem Land kann man die alten Frauen bitten, im Kaffeesatz die Zukunft zu lesen. Wenn man seinen Kaffee ausgetrunken hat, dann stürzt man die Tasse auf die Untertasse. Die Hellseherinnen heben die Tasse dann an. Wenn viel vom Satz heruntergefallen ist, so glaubt man, ist die Vorhersage besonders akkurat."
Ich kenne meine Zukunft, dachte Jamie, ich werde meine Tochter nach Hause bringen. Laut jedoch sagte sie: "Danke für ihr Willkommen und ihre Erklärungen. Ich werde so viel wie ich kann über die türkische Kultur lernen müssen mit der meine Tochter aufgewachsen ist."
Gunnul lächelte. "Ich bin froh, dass Sie so empfinden. Aber ich habe bei Chrissys Erziehung auch auf ihre europäischen Wurzeln geachtet. Sie spricht fließend Englisch und ist viel durch Europa gereist. Ich glaube, es wird Ihnen nicht schwer fallen, mit ihr zu kommunizieren, wenn Sie beide sich treffen sollten." Erläuterte Gunnul.
"Ich werde meine Tochter treffen, Miss Dedeman. Sie können mich nicht aufhalten, Teil ihres Lebens zu sein." Sagte Jamie.
Gunnul setzte ihre Tasse ab und stand auf, sie schaute aus dem Fenster. "Ich habe sie seit zehn Jahren aufgehalten. Und ich hätte es weiter getan, wenn Chrissy dieses Treffen nicht verlangt hätte. Sie ist als Baby zu mir gekommen. Ich habe sie rechtmäßig von ihrem Vater adoptiert.
In diesem Land ist Chrissy mein Kind. Ich liebe sie. Ich möchte Sie nicht verletzen, aber ich werde auch nicht zulassen, dass meine Tochter verletzt wird. Sie ist in einer sehr privilegierten und noblen Welt aufgewachsen. Sie ist eine gute Muslimin. Sie versteht Ihre Art nicht."
"Meine Tochter ist Moslem?!" Rief Jamie überrascht aus.
"Natürlich. Obwohl die Türken ursprünglich von Mongolen und Griechen abstammen sind wir schiitische Moslems. Mein Bruder war es auch," erklärte Gunnul geduldig, auch wenn sie große Schwierigkeiten hatte, ihre kochenden Emotionen unter Kontrolle zu halten.
"Moe hat niemals auch nur irgend eine Religion praktiziert, außer seinem Drogenkonsum," schnappte Jamie bitter und wurde sich plötzlich wieder bewusst, dass dies hier seine Zwillingsschwester war. "Ah, tut mir leid, das war nicht so gemeint, ich bin sicher, Sie haben Ihren Bruder sehr geliebt." Entschuldigte sie sich hastig und rutschte an den Rand des Sofas.
Ein Blick auf Jamie. "Nein, eigentlich habe ich ihn gehasst. Ich habe versucht, ihm zu helfen, er gehörte zur Familie, aber Mohammed ist mit diesem fatalen schwachen Charakter geboren worden. Ich habe ihn nie respektiert. Ich habe versucht, Christine so weit als möglich von seinem Einfluss fern zu halten." Erwiderte Gunnul ernst.
"Danke sehr. Ich... ich habe all die Jahre mit der Angst gelebt, er könne ihr weh tun, sie verletzen. Er konnte sehr... gewalttätig sein," gab Jamie zu und wischte sich eine Träne fort, die von ihrem Auge zu fallen drohte.
"Nein. Er hat ihr nie etwas getan. Ich hätte ihn umgebracht, wenn er es versucht hätte. Chrissy, sie ist wundervoll, intelligent und sorgsam. Sie ist nicht wie ihr Vater." Sagte Gunnul, plötzlich tat es ihr leid für diese Frau, um den Schmerz und die Sorge, die diese offenbar empfand. Auch eine Hure hat das Recht, ihre Kinder zu lieben. Sie war nicht fair behandelt worden, erkannte Gunnul jetzt.
Jamie nickte, nicht sicher, ob sie erleichtert sein sollte, dass diese bemerkenswerte Frau ihr Kind beschützt hatte oder entsetzt, mit welcher Leichtigkeit eben diese Frau darüber sprach, ihren eigenen Bruder zu töten. Was war überhaupt mit Moe passiert? Die Dinge entwickelten sich ganz und gar nicht so, wie sie angenommen hatte.
Sie war völlig perplex über die Tatsache, dass Gunnul physisch die Person war, die ihr Unterbewusstsein schon ihr ganzes Leben lang beherrschte. Und sie war ebenso überrascht herauszufinden, dass Gunnul sich sehr um Chrissy sorgte und sie ganz offensichtlich fair und offen erzogen hatte. Und dann war da noch der Fakt, dass ihre Tochter Moslem war. Obwohl Gunnul versichert hatte, dass sich ein gemeinsamer Konsens finden lassen würde, begann Jamie erst jetzt zu realisieren, dass sie nicht einfach in das Leben eines zehnjährigen, fremden Kindes spazieren und sagen konnte: ich bin deine Mutter, komm mit nach Hause.
"Ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Sie müssen müde sein. Es ist ein sehr langer Flug. Morgen werden wir unsere Tour beginnen. Ein paar Tage lang werde ich Ihnen die Türkei zeigen." Eröffnete ihr Gunnul, während sie sich vom Fenster abwandte und auf Jamie wartete, die darum kämpfte, auf die Füße zu kommen und ihre Krücke unter den Arm zu nehmen.
"Sie meinen, ich werde ein paar Tage unter Beobachtung gestellt und dann werden Sie entscheiden, ob ich Zugang zu meiner Tochter haben darf oder nicht." Forderte Jamie sie heraus, die Stimme ärgerlich erhoben.
"Ja, das meine ich," kam die kühle Antwort der Frau, die sich vor ihr aufbaute. "Würden Sie in meiner Situation nicht das Gleiche tun? Doch außerdem wird es gut für Sie sein, etwas über unser Volk zu wissen, bevor Sie meine Tochter kennen lernen." Fuhr Gunnul fort. Als sie ein Hauch des Duftes nach sonnengetrockneten Kräutern und süßem Gras traf, der so sehr aus ihren Träumen zu stammen schien, fügte sie hinzu: "Unsere Tochter."
Jamie, die bereit für einen Angriff war, schluckte ihre Erwiderung hinunter und schaute in die eisig blauen Augen der Frau, die ihre Tochter aufzog. Für einen langen Augenblick sprach keine der beiden. Zwischen ihnen schien pure Energie zu fließen. Langsam hob sich Jamies Hand und griff nach der Hand der Frau, die auf sie nieder schaute. Sie nickte.
"Unsere Tochter." Stimmte sie zu und die große Frau lächelte, hob Jamies Hand und küsste ihre Fingerspitzen. Ein Blitz aus Leidenschaft schoss durch Jamies zarte Gestalt. Sie sah in die Augen, die jetzt vor innerer Energie zu glühen schienen, die kaum menschlich zu nennen war. Sei vorsichtig, Jamie! Diese Frau ist sehr gefährlich, warnte sie ihr Verstand, doch ihr Herz verursachte ein leicht einfältiges Grinsen, dass von ihrem Gegenüber erwidert wurde.
"Kommen Sie, ich werde Ihnen Ihren Raum zeigen." Sie gingen durch das Vorzimmer, in dem ihr Assistent arbeitete. Er erhob sich bei ihrem Eintreten. Gunnul führte sie durch die Halle und öffnete die Tür zu einer Suite. Jamies Gepäck wartete darin. Jamie trat ein und zu ihrer Überraschung folgte Gunnul. "Würden Sie mit mir essen, heute Abend?" fragte die Frau förmlich, als würde sie eine Verabredung treffen.
"Ja." Erwiderte Jamie ohne nachzudenken. "Sehr gerne."
Die große Türkin entspannte sich sichtlich und lächelte. "Ich werde Sie gegen 20.00 Uhr anrufen. Sie sind müde und es wird ein ungezwungenes Abendessen sein." Sagte sie und verschwand.
Jamie sank in den nächsten Sessel. Heilige Götter! Was ging hier vor sich! Ihre Gefühle befanden sich auf einer Achterbahn. Ein Teil von ihr hasste diese Frau, die ihr ihre Tochter genommen hatte, ein Teil war dankbar für die Liebe und Fürsorge, die Chrissy zugute gekommen waren, ein anderer Teil ärgerte sich über diese Probe, auf der Gunnul bestand, bevor sie ihr gestattete, ihre eigene Tochter zu sehen und ein weiterer Teil schließlich wollte auf der Stelle zurück in die Arme dieser Frau, die alle ihre Fantasien wahr machte. "Oh, Gott," flüsterte sie, "was soll ich jetzt nur tun?"
Gunnul fühlte sich wie betäubt. Der Schock, diese Frau, die Obsession ihres Lebens, zu treffen, war wie ein physischer Schlag gewesen. Dass ausgerechnet diese Frau Chrissys Mutter sein sollte, stellte eine unglaubliche Komplikation in Gunnuls Leben dar. Schlimmer jedoch war, dass sie diese Frau mit einem Hunger wollte, dessen Kontrolle ihre ganze Selbstdisziplin erforderte. Wie konnte sie sich in eine Hure verlieben? Sie barg ihr Gesicht in ihren Händen. Wie konnte sie es nicht?
*********
Um 20.00 Uhr klopfte Gunnul an Jamies Tür. Sie trug Bluejeans und einen gestrickten Sweater, den sie in Schottland gekauft hatte. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz aufgebunden und hoffte, dass sie ein wenig amerikanisch wirkte. Jamie öffnete die Tür und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung über die sichtbare Wandlung vom smarten Geschäftsoutfit zu ungezwungener Eleganz. Bluejeans von Ralf Lauren und ein handgestrickter schottischer Sweater, bemerkte Jamie und fühlte sich ein wenig eingeschüchtert in ihren Levi's und dem dunkelgrünen T-Shirt, das sie in einer Mall zu Hause erstanden hatte. Aus der Tasche lugte ein Winnieh-Pooh hervor. "Sie kommen." Sagte Gunnul und vergaß ihre englische Grammatik völlig, als sie die Linien von Jamies zartem Körper in sich aufnahm.
"OK." Stimmte Jamie zu und schloss sich ihrer größeren Begleiterin an. Nebeneinander spazierten sie durch die Hotelhalle und nahmen den Aufzug für die kurze Fahrt auf die Dachterrasse. Ganz Istanbul und die Bosporus See lagen zu ihren Füßen. Die Aussicht war hinreißend! Zu Jamies Überraschung und Amüsement servierten diskrete Diener schweigend ein Essen aus Hamburgern und Pommes Frites.
"Wie oft haben Sie hier oben denn schon Hamburger gegessen?" fragte Jamie und wischte sich mit der Seidenserviette über den Mund.
Gunnuls Hamburger blieb auf halbem Wege zu ihrem Mund stehen und wanderte dann wieder auf den Teller zurück. "Nie. Ist das Essen nicht richtig? Woher wissen Sie?" fragte ihre Gastgeberin entsetzt.
Jamie lachte. "Das Essen ist exzellent. Sie sehen nur nicht wie ein Hamburgertyp aus. Das ist sehr süß, Gunnul. Ich... ich meine, wenn ich Sie so nennen darf?"
Gunnul errötete und schaute tief in die grünen Augen. "Was, Gunnul, oder dass ich süß bin?" Erwiderte sie scherzhaft.
Jamie lachte wieder. Gunnul entschloss sich, diese Art, wie Jamie lachte, zu mögen. "Ist es OK, wenn ich Sie beim Vornamen nenne?" fragte Jamie noch einmal.
"Ja, wenn ich Sie Jamie nennen darf." Kam die Antwort.
"OK. Süß," scherzte Jamie und Gunnul lachte. Sie beendeten ihre Burger, während Gunnul von Chrissys Ausbildung erzählte und wie gut sie in der Schule war. Jamie war beeindruckt von Chrissys augenscheinlichen Fähigkeiten, von der feinen Erziehung, die ihr zuteil wurde und wie ernst Gunnul das Ganze nahm. Sie entdeckte, dass sie sich sehr schnell für diese Frau erwärmte und es fiel ihr immer schwerer, daran zu denken, dass diese ihre Vermögen durch den Verkauf von Drogen verdient hatte.
"Unten in meinem Schlafzimmer habe ich Bilder von Chrissy. Möchten Sie sie sehen?" fragte Gunnul, nun ganz entspannt und zufrieden damit, wie gut der Abend bisher verlaufen war. Sie hatten sogar eine Flasche Wein getrunken, etwas, was sie selten machte, weil der Genuss von Alkohol gegen ihre Religion war. Es machte sie leichtherzig und leichtsinnig.
"Bitte, ja." Antwortete Jamie und stand aus dem bequemen Stuhl auf, in dem sie entspannt zurückgelehnt gesessen hatte.
Gunnul erhob sich ebenfalls, der Raum schwankte ein wenig. Sie lächelte und nahm Jamies Hand. "Hier entlang." Sagte sie und führte die kleine Frau vorsichtig hinunter zu ihrem Schlafzimmer, ein Geschoss tiefer. Neben ihrem Bett standen zwei Bilder von Chrissy, eines zeigte sie auf ihrem Pferd und das andere in ihrer Schüleruniform. Jamie spürte, dass ihre Knie nachgaben und sie sank auf Gunnuls Bett. Sie hielt die Bilder in der Hand und Tränen liefen über ihr Gesicht. Ihre Tochter war eine schöne Unbekannte, die sie glücklich aus einer Welt heraus anlächelte, die für Jamie völlig fremd war.
Plötzlich war ihr dunkler Beschützer an ihrer Seite. Die Bilder wurden ihr aus den zitternden Fingern genommen und zurück auf den Nachttisch gestellt, dann schlossen sich warme Arme fest um sie und Jamie schlang ihren Arm um ihr Phantom und weinte sich die Augen aus.
Gunnul hielt Jamie fest und strich ihr über das Haar. Sie beugte sich vor und atmete tief den Duft der goldenen Locken ein. Sie rochen nach frischer Luft und dem einzigartigen Aroma der Kräuter ihrer Traumgefährtin. Ihr Kopf neigte sich, ihre Wange lehnte an Jamies und die erschütterte Frau erwiderte ihre Umarmung, indem sie ihre Arme fest um Gunnuls Nacken schlang. Gunnul schluckte. Sie hatte wirklich nicht viel Erfahrung in diesen Dingen. In ihrer Welt waren Verabredungen mit Jungen nicht gern gesehen. Mit einer Frau zusammen zu sein, war etwas, das bekannt war, worüber aber erst recht nicht gesprochen wurde.
Sie ließ ihre Lippen über das weiche Haar wandern in das sie jetzt ihr Gesicht vergraben hatte, ihre Hände strichen sanft über Jamies Rücken. Das Gefühl von Jamies warmer Haut unter ihrem Hemd schickte einen heißen Schauer von Gefühlen bis in Gunnuls tiefstes Inneres. Leichtsinnig vom Wein vergaß sie ihren Zwang zur Selbstkontrolle und zog die kleine Frau auf ihr Bett nieder, rollte sich über sie und küsste sie voller Leidenschaft auf die Lippen, wie sie es in amerikanischen Filmen gesehen hatte.
Zuerst war Jamie viel zu schockiert um überhaupt zu reagieren. Dann riss sie sich los und schlug Gunnul mit der Faust gegen die Schläfe. "Lassen Sie mich gehen, verdammt!" schrie sie und Gunnul ließ augenblicklich von ihr ab und stürmte quer durch das Zimmer bis zur gegenüberliegenden Wand. "Was zu Hölle haben Sie sich denn dabei gedacht?!"
"Ich wollte Liebe mit dir machen." Sagte die bestürzte Frau. "Habe ich nicht richtig gemacht?" fragte sie.
Jamie kämpfte sich mit Mühe auf die Füße und richtete ihre Krücke. "Was lässt dich glauben, dass der Trick bei mir funktioniert?!" forderte die wütende Amerikanerin.
Gunnul war noch mehr durcheinander und ihr Kopf begann zu schmerzen. "Was für Tricks? Du bist eine Hure und ich wollte deine Dienste in Anspruch nehmen." Gunnul versuchte es zu erklären, allmählich wurde auch sie über Jamies Reaktion wütend.
"Hure! Wen nennst du hier eine Hure, du verdammte, geile Heidin!" schrie Jamie und hinkte zur Tür, sie verschwand und schlug die Tür laut hinter sich zu.
Gunnul starrte verwundert auf die Tür. In ihrem ganzen Leben seit sie ein Kind war, hatte niemand so mit ihr geredet. Niemand würde es wagen. Mit versteinerter Mine durchmaß sie den Raum und die Halle in Richtung Jamies Suite. Die Halle drehte sich und Gunnul war gerade noch in der Lage, sich an eine Wand zu lehnen, damit sie stehen blieb. Sie drehte sich wieder um. Ich bin betrunken, realisierte sie verwundert.
Jamie stopfte ihre Sachen in den Koffer, wütend und verängstigt von Gunnuls Avancen. Das wird mir eine Lehre sein, immer nur das Gute in den Menschen zu sehen. Alles, was Mohammed mir über diese Frau erzählt hat, ist wahr. Sie war wunderschön, aber unter dieser gut zur Schau gestellten Oberfläche brodelte ein wirklich verdorbenes Leben. Jamies Hände zitterten so stark, dass sie das Schloss nicht schließen konnte. Sie holte tief Atem, setzte sich auf das Bett und versuchte damit fertig zu werden, was gerade passiert war. Sie hatte Gunnul irgendwie gewähren lassen. Es hatte sich einfach zu gut angefühlt in ihren Armen. Ihr ganzes Leben lang hatte es diese Barriere gegeben zwischen ihr und dieser Präsenz, die so sehr Teil ihres privatesten Lebens war. Gunnul hatte diese Barriere durchbrochen. Gunnul war auf so vielfältige Weise wie ihre geheime Kriegerin.
Als Gunnul sie in die Arme genommen hatte, war sie nahe herangerückt und hatte ihre Arme um die Frau geschlungen. Sie hatte dieses Gefühl von Lippen auf ihrem Haar und die Zartheit der Wange an ihrer genossen. Sie hatte es zugelassen und ermutigend aufgeseufzt, als Gunnul über ihren Rücken gestrichen hatte. Sie hatte Gunnul irgendwie durch ihre Körpersprache zu verstehen gegeben, dass sie bereit war. Vielleicht machte sie das in Gunnuls Kultur zur Hure. Gott verdammt, alles was ich will, ist meine Tochter zurück und nun wird einfach alles immer komplizierter! Chrissy war eine Fremde für sie. Gunnul war eine Fremde, die sich anfühlte wie eine Geliebte. Mist!
Jamie griff nach ihrer Krücke und humpelte zur Tür. Sie musste mit Gunnul reden und einen Weg finden, ihre Tochter zurück zu bekommen. Sie öffnete die Tür und sah, dass ein Soldat davor stand.
"Entschuldigung," murmelte Jamie und versuchte, an ihm vorbei zu schlüpfen. Der Soldat wandte sich um und schaute sie an.
"Nein. Sie bleiben in Ihrem Zimmer! Order von General Dedeman." Sagte der Soldat.
"Was!? Stehe ich jetzt unter Hausarrest?!" fragte Jamie und ihre Frustration wuchs, noch einmal versuchte sie, an der Wache vorbei zu kommen.
Die Wache benutzte eine Pistole um Jamie sanft, aber bestimmt in ihr Zimmer zurück zu scheuchen. "Sie müssen bleiben." Sagte er streng und schloss die Tür.
Ein paar Sekunden stand Jamie schockiert mitten im Zimmer, dann kroch die Angst langsam in ihrem Herzen hoch. In welchen Schwierigkeiten steckte sie jetzt schon wieder? Sie hatte "Midnight Express" gesehen und hatte es nicht besonders ernst genommen. Es war nur ein Film hatte sie ihren Freunden gesagt, das Land kann nicht wirklich so sein. Doch jetzt stand sie unter Bewachung, weil sie die Avancen eines sehr mächtigen, bösen Individuums zurück gewiesen hatte. Sie hinkte zu einem Sessel und setzte sich, Tränen der Angst und Frustration liefen über ihre Wangen. Oh Chrissy Liebling, deine Mom hat wirklich Mist gebaut.
*********
Gunnul beobachtete den Sonnenaufgang im Osten, während sie auf ihrem Gebetsteppich kniete. Ihre Hände strichen über die Gebetsbänder an seinem Rand und sie wiederholte ihre Shahada: Es gibt nur einen Gott und Mohammed ist sein Prophet. Gott ist groß. Gott ist gnädig. Sie hatte die ganze Nacht gebetet in der Hoffnung, Ruhe in ihrem noch immer aufgewühlten Herzen zu finden. Einmal mehr nahm sie ihren Koran auf und las die Worte der Lobpreisung des Mohammed:
Im Namen Gottes, des Allmächtigen und Gnädigen
Die Lobpreisung gebührt Gott, dem Herrn aller Wesen,
dem Gütigen, dem alles- Vergebenden,
dem Herrn des Jüngsten Tages.
Dir allein dienen wir, zu Dir allein beten wir um Erlösung.
Führe uns auf unserem Pfad,
den Pfad derjenigen, die Du gesegnet hast,
nicht derer gegen die Du deinen Zorn richtest,
noch derer, die fern von Dir sind (Koran 1:1-7)
Dreimal verneigte sie sich nach Osten, nach Mecca, dem Zentrum des Islamischen Reiches, dann erhob sie sich und machte sich auf den Weg zurück in ihre Zimmer. Sie überlegte, ob sie wieder ihre europäische Kleidung anziehen sollte, entschied sich dann aber dagegen, sie fand in ihrer traditionellen Robe Sicherheit und Geborgenheit. Sie bewegte sich leise durch die Halle und mit einem Wink ihrer Hand entließ sie die Wache, die vor Jamies Tür stand. Sie klopfte leicht an. "Herein." Kam die rasche Antwort.
Gunnul öffnete die Tür und trat ein. Jamie stand am Fenster, das Morgenlicht tanzte auf ihrem goldenen Haar. Gunnul festigte ihren Entschluss. "Ich möchte mit dir reden, wenn ich darf." Sagte sie leise.
Jamie wischte sich nervös den Schlaf und die Tränen aus den Augen. "Ja," erwiderte sie so sachlich, wie sie in der Lage war und ihre Augen weiteten sich überrascht.
"Ich habe gestern Abend getrunken, obwohl ich weiß, dass das eine Sünde ist. Die Konsequenz davon war, dass ich mich in unziemlicher Art und Weise betragen habe und Schande über mich und mein Volk gebracht habe. Ich habe um Vergebung und Stärke gebetet und ich komme jetzt, um mich bei dir zu entschuldigen." Sagte Gunnul.
Jamie schaute auf die Fremde, die vor ihr stand. In ihrer Robe, das Gesicht von einem dünnen Schleier von der Nase an abwärts bedeckt. Das einzige, was noch an diese Europäerin von gestern Abend erinnerte, waren ihre erstaunlich blauen Augen. "Ist meine Tochter auch so gekleidet?" fragte sie.
"Freitags. Am heiligen Tag. Ja." Erwiderte Gunnul verwirrt über Jamies Reaktion.
Jamie nickte. "Ein Teil dessen, was passiert ist, ist meine Schuld. Meine Kultur ist so verschieden von deiner. Vielleicht habe ich die falschen Signale ausgesendet. Ich wusste nicht, dass du nicht trinkst." Einen Moment Zögern, "Bin ich eine Gefangene?" fragte Jamie dann ernst.
Gunnuls Augen weiteten sich. "Nein, natürlich nicht! Ich wollte einfach nicht, dass du abreist, bis ich die Zeit hatte, zu einem Entschluss zu kommen. Ich weiß nicht, was du wünschst. Du hast mein Wort, dass ich meinen Fehler nicht wiederholen werde. Ich wünsche, dass wir mit unserem Programm fortfahren, dass ich dir unterbreitet habe."
Jamie starrte in die seltsamen Augen, die von der eisigen Helle zum Blau des Himmels geschmolzen waren. "OK. Du bist der Weg zu meiner Tochter, also habe ich keine große Wahl. Aber ich muss dich warnen, ich habe einmal den Fehler gemacht, deinem Bruder seine Gewalttätigkeit zu verzeihen. Im Ergebnis hat er mich halb zu Tode geprügelt und mich mit einem zerschmetterten Bein zurück gelassen. Ich werde mich von niemandem wieder in eine solche Situation bringen lassen. Hast du das verstanden?"
Die Augen wurden weit vor Horror. "Du erzählst mir allen Ernstes, dass mein Bruder dir das angetan hat?!" Fragte die größere Frau ungläubig.
"Ja und ich werde mich niemals wieder zum Opfer machen lassen. Oder meine Tochter." Grollte Jamie.
Verletzung schoss durch die blauen Augen. "Ich würde Chrissy niemals verletzen." Kam die zornige Erwiderung.
"Das möchte ich dir auch geraten haben!" Die Herausforderung.
Die Türkin drehte sich um und ging, Jamie blieb zitternd und verwirrt zurück, was würde als nächstes passieren?
*********
Kurze Zeit später kam Teefo an Jamies Tür. "Bitte, die Kriegerin, sie hat mich gebeten, Ihnen zu bestellen, dass Sie sie heute auf der Tour durch Istanbul begleiten. Sie wünscht zu wissen, ob Sie mit ihr alleine gehen werden oder ob Sie eine Eskorte wünschen."
Jamie schüttelte ungläubig ihren Kopf. Gunnul schwankte in ihrem Sein als mächtiges, kaltes Rätsel und dem unsicheren, warmen, fürsorglichen Menschen dahinter, beständig hin und her. Sie war die ihr vertrauteste und doch komplexeste Person, die sie jemals kennen gelernt hatte. "Bitte bestellen Sie Gunnul, dass ich gerne die Tour durch Istanbul mit ihr als meine Führerin machen möchte und dass ich keine Veranlassung habe, noch jemanden hinzu zu ziehen."
Teefo nickte und verschwand. Innerhalb weniger Minuten war Gunnul an der Tür, wieder in europäischer Kleidung. Heute trug sie Bluejeans und ein Hemd aus naturbelassener Baumwolle. Sie sah unaufdringlich und schön aus und Jamie fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, hätte sie Gunnul erlaubt, mit ihr zu schlafen. So schnell, wie er gekommen war, schob sie den Gedanken so weit von sich, wie sie konnte. Alles was zählte, war Gunnul zu überzeugen, dass diese ihr ohne Bedenken Zugang zu Chrissy gewähren konnte.
"Bist du bereit, Jamie?" fragte Gunnul.
Jamie nickte und umfasste den Griff ihrer Stütze fester. "Lass uns gehen."
Ein Mercedes Coupe in Britisch- rennrasen- grün stand wartend in der Auffahrt und der Empfangschef hielt die Tür für sie geöffnet. Die nun sehr europäisch wirkende Gunnul setzte ihre Sonnenbrille auf und fuhr hinaus auf die geschäftigen Straßen Istanbuls, in kurzer Zeit erreichten sie einen Parkplatz in der Nähe der Zitadelle.
"Dies sind unsere beiden größten Moscheen. Die Blaue Moschee siehst du hier und dahinter befindet sich die Hagia Sophia. Die meisten Türken sind schiitische Moslems und keine Sunniten. Die Schiiten im Mittleren Osten sind vor allem Fundamentalisten. Schiiten glauben, dass die Nachfahren von Mohammed die wahren Imams sind. Die Sunniten hingegen sind der Überzeugung, dass die Nachfolger des Propheten durch seine Gläubigen ausgewählt werden müssen und nicht in direkter Nachkommenschaft zu ihm stehen müssen. Es ist nur ein kleiner Unterschied, dem viele Opfer gebracht wurden. Aber nicht hier in der Türkei. wir sind Moslems, aber ich fürchte, dass wir nicht immer gute Moslems sind." erklärte Gunnul mit einem Lächeln. "Wir sind für Moslems sehr liberal in unseren Ansichten. Komm mit."
Jamie folgte Gunnul durch die Menge der Pilgerer und Touristen zum Eingang der Blauen Moschee. Hier zog sie zwei Kopftücher aus ihrer Tasche und band eines davon um Jamies Kopf, das andere legte sie selber um. Sie zogen ihre Schuhe aus und betraten die Blaue Moschee. Hoch über ihnen wölbte sich eine Kuppel von betörendem Blau. Geometrische Muster von unglaublicher Komplexität schmückten die Wände und Gewölbe. Gedämpftes Licht fiel durch die Glasfenster auf die königsblauen Gebetsteppiche auf dem Boden. Es gab keine Worte, die Größe und Schönheit des Gebäudes zu beschreiben. Jamie stand mit offenem Mund und schaute in die Höhe, während Gunnul geduldig auf sie wartete.
"Gunnul, es ist so wunderschön!" flüsterte Jamie. "Kommst du auch hierher zum Beten?"
"Es ist ein außergewöhnliches Beispiel für die Byzantinische Kunst. Und nein, wir kommen nicht hierher. Obwohl es immer noch als Moschee genutzt wird, ist es durch den Tourismus ein zu öffentlicher Platz für mich, um zu beten. Komm jetzt, du hast die Hagia Sophia noch nicht gesehen."
Sie zogen ihre Schuhe wieder an und spazierten über den Hof zu einem der berühmtesten Gebäude in der Welt. "Die Blaue Moschee hat sechs Minarette, einige meinen, das sei so, weil ihr Erbauer sechs Söhne hatte, aber Hagia Sophia hat nur vier und das ist die angemessenere Zahl. Sie war zunächst als Kirche von Jusitinian gebaut worden, dem Mann, der das Byzantinische Reich errichtet hat, sie wurde erst später zur Moschee. Tausend Jahre lang war sie das größte Gotteshaus der Welt."
Wieder zogen sie ihre Schuhe aus und traten ein. Wenn die Blaue Moschee beeindruckend gewesen war, so war Hagia Sophia beinahe mystisch zu nennen. Die Kuppel schien doppelt so hoch zu sein und nur durch Vertrauen auf den zarten Wänden gehalten zu werden. Gunnul zeigte Jamie die goldenen Mosaiken von Justinian und seiner berühmten Frau Theodora. "Justinian, so sagt man, war sehr geduldig und sanftmütig, egal ob er einen Botschafter begrüßte oder die Blendung von 20.000 seiner Feinde anordnete. Er war der Begründer des Byzantinischen Reiches. Es war diese Macht, die das Heilige Römische Reich in den Jahren der Dunkelheit über Europa zusammenhielt und mit ihm das alte Wissen von Griechenland und Rom bewahrte. Die Europäer wären heute nicht, was sie sind, hätte es diesen sanften Mann mit dem eisernen Willen nicht gegeben. Er war zwanzig Jahre glücklich verheiratet und nach Theodoras Tod hat er, solange er lebte, täglich ihr Grab besucht." erzählte Gunnul weiter.
"Es ist eine rührende Liebesgeschichte, aufgebaut auf dem Blut der Unterlegenen. Die Menschen rebellierten gegen die hohen Steuern, die für den Bau eines solchen Gebäudes erhoben werden mussten und Jusitinian wurde geraten, er solle fliehen, doch Theodora hat dies nicht zugelassen. Sie sagte ihm, das es besser sei aufrecht und im purpurnen Fürstenmantel zu sterben, als ein armes Leben in Feigheit zu führen. Sie sind geblieben und haben gesiegt." Beendete die Türkin die Geschichte.
Jamie schaute ihre stolze Führerin an. "Ich glaube, du magst Justinian sehr." Gab sie ihre Beobachtung preis.
"Ich glaube, dass man tief lieben und trotzdem so gewalttätig sein kann."
Gunnul schaute zu Jamie nieder und erforschte die grünen Tiefen ihrer Augen. "Ich habe niemals geliebt, doch ich habe schon viele getötet." Gab sie zu und wandte sich um, um Jamie zum Ausgang zu führen. Jamie folgte ihr, ein kalter Schauder verursachte ihr eine Gänsehaut.
Draußen kniete Gunnul vor Jamie nieder und half ihr in die Schuhe. Dann nahmen sie die Kopftücher ab und verstauten sie in der Tasche. "Hagia Sophia nannte man auch das Auge der Welt," kommentierte Gunnul, während sie sie den Weg zum Wagen zurück führte. Jamie dachte, dass es das noch immer sein könnte.
Der Tag war vollgestopft mit den erstaunlichsten Erfahrungen und voller Bilder wie ein Kaleidoskop. Sie spazierten durch die geschäftigen Straßen der Stadt bis zum Hippodrom, wo die Römer ihre Wagenrennen veranstaltet hatten. Ein ägyptischer Obelisk auf einer byzantinischen Basis markierte noch immer den Wendepunkt für die Wagen. Gunnul führte Jamie zum Topkapi Palast und zeigte ihr die Kronjuwelen, die die Britischen Schätze daneben verblassen ließen. Jamie sah einen Diamanten, der mindestens 84 Karat wog, umringt von einer weiteren Reihe Diamanten und in einer goldenen Fassung; ein silbernes Serviertablett quoll über von Smaragden; es gab juwelenbesetzte und vergoldete Möbel, Waffen, Eierbecher aus goldener Filigranarbeit, diamantenbesetzt und Geschirre aus feinstem chinesischen Porzellan. Sie durchwanderten Raum um Raum voller unglaublicher Reichtümer, die weit über das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen hinausgingen.
In der Nähe des Großen Basar aßen sie zu Mittag, es gab diesen zentralen Markt, seit die legendäre Seidenstraße einst hier endete. Ein mehrschiffiges, großes Gebäude, mit einer Haupthalle und Nebenhallen an den Seiten. Jeder Bereich gehörte einer bestimmten Zunft. Die Haupthalle war den Goldschmieden vorbehalten und über zwei Straßenblöcke hinweg strahlten die Schaufenster in goldenem Glanz. Es gab Hallen für Lederwaren, Teppiche, Gewürze, Kupferwaren und tausend andere Waren.
Jamie hätte gerne gehandelt und etwas erworben, aber ihre Ersparnisse hatten kaum gereicht, um die Flugtickets zu bezahlen.
Gunnul nahm Jamie mit zu einem Teppichweber. Hier konnte sie sehen, wie die Seidenteppiche hergestellt wurden und ihre Schönheit machte sie atemlos. Sie hätte so gerne einen eigenen Teppich erworben, doch die Preise wurden in Tausenden von Dollars angegeben. Als sie durch den Gewürzmarkt gingen, fühlte Jamie sich völlig überwältigt von den Bergen exotischer Gewürze und Kräuter, die von den Händlern aus aller Welt feilgeboten wurden.
Das Abendessen gab es in einem der Straßencafés am Ufer der Bosporus See und dann nahmen sie ein Boot und fuhren damit am Ufer entlang zu den großen Stätten der Osmanen, ihren Wohnhäusern, Palästen und Festungen. Der Wohlstand in den Häusern und das reiche Erbe der Stadt waren wirklich erstaunlich. Istanbul, das legendäre Konstantinopel, der Name klang wie ein scharfer Ton, erfüllt von der Romantik und dem Abenteuer der Händler, Krieger und Eroberer von Tausenden von Jahren. Jamie nahm an, dass die Stadt von diesem Erbe ewig würde zehren können!
Gunnul lehnte in respektvoller Entfernung neben Jamie an der Reling. Den ganzen Tag war sie höflich und förmlich gewesen, eine perfekte Führerin und Gastgeberin und genau das versetzte Jamie in Unruhe. Die Nachtluft war kühl nach der Hitze des Tages. "Gunnul," flüsterte Jamie.
"Hmm." erwiderte die Kriegerin, stand auf und schaute Jamie fragend an.
"Warum wolltest du mich küssen?" fragte Jamie weiter.
Gunnul wandte sich ab und schaute auf das dunkler werdende Wasser. "Ich fühle mich zu dir hingezogen, Jamie. Es ist schwer zu erklären."
"Willst du mich noch immer küssen?" Jamies Hand glitt leicht über das Geländer, während sie näher kam.
Gunnul schluckte und starrte weiter auf das Wasser. "Ja."
"Jetzt wäre eine gute Gelegenheit." flüsterte Jamie und schaute scheu auf ihre Hand, die sich über Gunnuls schob.
Gunnul drehte sich überrascht um und sah die kleine Frau verwirrt an. "Du wünschst, dass ich jetzt Liebe mache?" fragte sie.
Jamie lachte. "Nein. Ich weiß nicht, was ich möchte, aber ich hätte gerne, dass du mich festhältst und mich küsst."
Gunnul trat näher heran und legte ihre starken, langen Arme um Jamies Schultern. "Ich nicht sehr viel darüber weiß." Sagte sie und ihr Englisch entglitt ihr vor lauter Nervosität.
Jamie glitt in Gunnuls Arme und fing die Lippen der Türkin ein. "Entspann dich, ich werde es dir zeigen." Hauchte sie an Gunnuls Mund und knabberte behutsam an ihrer Unterlippe. Als Gunnul einen sanften Seufzer ausstieß nutzte Jamie die Gelegenheit und ließ ihre Zunge in Gunnuls Mund schlüpfen. Die größere Frau erstarrte vor Überraschung und zog Jamie dann fest in ihre Arme. Ihre Zungen spielten miteinander. Jamie zog sich zurück und Gunnul folgte, eroberte Jamies Mund und Wesen zum ersten Mal. Jamie stöhnte auf und Gunnul erstarrte augenblicklich, ein besorgter Blick lag auf ihrem Gesicht. "Nein. Es ist OK. Was du tust, erregt mich, das ist alles." Erklärte Jamie.
"Mich erregt es auch, sehr sogar." Gab Gunnul ernsthaft zu und Jamie lehnte sich an Gunnuls Brust und versank in der warmen Umarmung dieser machtvollen Frau.
Gunnul saß in ihrem Schlafzimmer und starrte auf die Wand. Gerade hatte sie sich höflich vor Jamies Tür verabschiedet und sie leicht auf die Wange geküsst. Ein Teil von ihr sehnte sich nach Jamie, wollte sie in ihr Bett einladen und war bitter enttäuscht, dass sie nichts dergleichen getan hatte. Der andere Teil war ungeheuer erleichtert. Obwohl ihr Verlangen groß war, durchquerte sie doch dabei unsicheres Gewässer und das jagte ihr Angst ein. Jamie war eine Prostituierte und wusste sicherlich ungeheuer viel über Sex. Gunnul hatte nicht die geringsten Erfahrungen. Zum einen, weil sie traditionell aufgewachsen und erzogen worden war, zum anderen, weil der einzige Mensch, den sie jemals wirklich begehrt hatte, ihre imaginäre Geliebte war, deren Seele sie sorgsam in ihrem geheimen Garten verwahrte.
Außerdem gab es neben dem Verlangen nach Sex so viele andere Komplikationen. Chrissy musste geschützt werden, koste es, was es wolle. Und sich auf ihre leibliche Mutter einzulassen war bestimmt keine gute Idee. Die Frau war wesentlich netter, als sie sich vorgestellt hatte und dennoch war sie kein angemessener Umgang für sie, geschweige denn ihre Tochter. Eine Heidin noch dazu. Gunnul barg ihr Gesicht in den Händen. Sie war wie eine Motte, die sich in ihrem Begehren nach dem Licht selber verbrannte. Sie wusste, dass sie davonfliegen sollte und konnte es doch nicht. Dieses Verlangen war wie eine Droge. Alles was sie wollte, war, in Jamies Armen die Liebe zu entdecken und ihre Seele verzehrte sich danach mit überwältigender Wucht.
Jamie saß auf ihrem Bett. Ihr Bein tat höllisch weh. Es war ein langer Tag gewesen und sie hatte sich nicht beklagen wollen, weil alles, was Gunnul geplant hatte so aufregend und faszinierend gewesen war. Sie war gerne mit Gunnul zusammen. Es ängstigte sie, dass sie den gleichen Fehler wieder machen könnte, den sie schon bei Moe gemacht hatte, indem sie sich auf diese gefährliche Person einließ, die genauso aussah und sich genauso anfühlte, wie ihre heimliche Beschützerin. Und dann war da noch Chrissy. Wenn sie sich nicht mit Gunnul einigte, hieß das dann, dass sie ihre Tochter nicht sehen würde? Sie nahm es nicht an, Gunnul schien eine sehr ehrenwerte Frau zu sein. Aber war sie es auch? Sie sprach ganz beiläufig über das Töten und ihr Geld war das Geld eines Drogenbosses. Warum denkst du überhaupt darüber nach, dich auf diese Frau einzulassen, Jamie? Ihr Bruder hat dich beinahe umgebracht! Und es war offensichtlich, dass Gunnul nichts von der Schwäche ihres Bruders hatte. Sie war schnell, entschieden und in unglaublich guter Verfassung.
Sie war in einem völlig fremden Land und wusste überhaupt nichts darüber. Sie könnte doch einfach verschwinden und es würde nie wieder jemand von ihr hören. Diese Dinge passierten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Das wäre doch eine Möglichkeit, sie davon abzuhalten, Chrissy mit sich zu nehmen. Warum hatte sie dieser Reise mit Gunnul zugestimmt? Dies machte sie unwahrscheinlich verletzbar! Weil Gunnul dir niemals weh tun würde, kam die Antwort aus der Tiefe ihrer Seele. Bitte, lass mich nicht wieder so verblendet sein, bat sie.
Außerdem gab es da diese erstaunliche Chemie zwischen ihnen beiden. Bei aller Macht und Autorität, war es klar, dass Gunnul unschuldig wie ein Baby war, wenn es um Sex ging. Ich glaube, sie hat noch niemals jemanden geküsst! Das ist erstaunlich! Sie muss fast dreißig sein. War es fair, sie zu ermutigen? Konnte sie selber damit aufhören? Oh Himmel! Auf was habe ich mich da bloß eingelassen?
*********
Gunnul hatte einen angenehmen Traum, sie lag in einer Hängematte und Jamie hatte sich an sie geschmiegt. Plötzlich schoss ein Gedanke mit Eiseskälte durch ihr Herz. Sie wachte mit einem Ruck auf, ihr Herz schlug rasend und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Hatte Jamie nicht erst gestern sehr energisch ihre Avancen abgewehrt? Und heute hatte sie sich küssen und festhalten lassen. Diese Frau war es gewohnt, ihren Körper als Mittel zu benutzen. Jamie musste ihr Verlangen nach ihr ausnutzen, um an Chrissy heran zu kommen. Gunnuls Magen revoltierte, sie rollte sich aus dem Bett und stürzte ins Badezimmer.
Jamie träumte, wie sie es schon tausendmal geträumt hatte: sie stand unter einer tropischen Sonne, Gunnul hielt sie fest umarmt. Sie konnte den heißen, würzigen Duft riechen und die seidige Haut ihrer Geliebten spüren. Plötzlich ließ die Erkenntnis ihren Traum in einer zerschmetterten Realität explodieren. Gunnul hatte sie eine Hure genannt! Sie scherte sich nicht im geringsten um sie! Sie wollte ihre Dienste in Anspruch nehmen! Hatte sie nicht so etwas gesagt?! Und Jamie war dumm genug gewesen, ihr nach ein paar entschuldigenden Worten auf den Leim zu gehen. Gunnul hatte sich vermutlich ins Fäustchen gelacht hinter ihrem Rücken! Jamie, du wirst manipuliert, und dann kann sie sagen, du wärest nicht gut genug, um Kontakt mit deiner Tochter zu haben! Oh Scheiße! Jamie rollte sich zu einem kleinen, schluchzenden Ball zusammen. Dieser Schmerz war für sie nicht zu ertragen.